Skip to content

Bericht über eine Langstreckenfahrt, auf der vieles anders kam als geplant, jedoch auch viele neue Erkenntnisse entstanden

Einleitung
Ab und zu packt mich das Langstreckenfieber und dann muss ich mein Velo satteln und hinaus in die Welt fahren. Allerdings nicht im Stile einer klassichen Veloreise mit Etappen und Übernachtung im Hotel oder Camping sondern nonstop. Je länger, desto besser. So war es auch dieses Jahr wieder: Schon Wochen im Voraus nahm das Projekt Konturen an und ich beschäftigte mich mit der Planung von Streckenabschnitten, Windrichtungen (dazu später mehr), Abfahrtszeiten und natürlich auch dem Material. Zuerst jedoch möchte ich kurz auf mein Verständnis des Begriffs "Ultracycling" eingehen.

Das Ultracycling
Eine Nonstop-Fahrt im Sinne des Self Supported Ultracycling (auch Audax genannt) fängt meiner Meinung nach irgendwo im Bereich ab 300km an. Das ist ungefähr die Strecke, welche man - abhängig von der Jahreszeit und damit der Tageslichtdauer - problemlos im Hellen fahren kann. Typischerweise rechne ich für mich persönlich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit netto von 28km/h bei "kurzen" Distanzen von 300km und dem Rennvelo mit Aerobars und halbwegs flacher Topographie. Bei längeren Strecken, anspruchsvoller Geographie, starkem Gegenwind oder Gravelanteilen geht der Schnitt entsprechend runter. Dazu kommen die notwendigen Zwischenstops zum Nachfüllen von Wasser. Tönt einfacher, als es manchmal ist! Nicht in jedem Dorf gibt es einen Brunnen, oder man muss ihn erst suchen weil die Durchgangsstrasse eben nicht daran vorbeiführt. Und dann ist das Wasser explizit als nicht trinkbar ausgewiesen... Sowas kostet Zeit. Auch kann und mag ich mich nicht den ganzen Tag lang von Riegeln und Gels ernähren. Ein Sandwich, Pizza oder andere schnell erhältliche Köstlichkeiten sorgen für gute Laune und Energie unterwegs. Aber auch sie müssen gefunden, bestellt und verzehrt werden. Also, langer Worter kurzer Sinn: Die Fahrt dauert (sehr) lange und man muss zwingend bereit für die Nacht sein! Je nach Auslegung der Startzeit und der Gesamtdistanz kann das eine oder sogar zwei Fahrten durch die Dunkelheit bedeuten. Noch länger, also 48h und mehr, würde natürlich auch gehen, aber überschreitet meinen persönlichen Horizont und Fähigkeiten im Sinne des Self Supported und Non-Stop fahren. Hotel- oder Zeltübernachtungen fallen eher in die Kategorie der Radreise, auch wenn sie bei den ganz grossen Langstrecken-Events unverzichtbar sind.

Das Material
Wie oben schon erwähnt, dient mein altgedientes Karbon-Rennvelo mit den zusätzlichen 3T Aerobars und schnellen Rädern als Einsatzgerät für kürzere Strecken ohne Gravelanteile. Hinten noch ein Saddlebag (auch "Arschrakete" genannt) dran, Notbeleuchtung und gut ist. Soweit, so einfach. Aber wie komme ich jetzt durch die Nacht? Und was mache ich, wenn der schönere Weg statt über die vielbefahrene Landstrasse halt über den (vielleicht sogar noch kürzeren) Feldweg führt? Eben, da muss das Gravelbike her. Mein Canyon Inflite AL entstammt zwar dem Cyclocross, aber wir wollen mal nicht so sein... Für mich hat es sich dank 2x11 und recht sportlicher Geometrie als passend für die Langstrecke erwiesen. Einzig die kleinstmögliche Übersetzung von 36x32 ist nach vielen Stunden im Sattel bei harten Bergen etwas zu lang. Ich kann sie zwar gut drücken, aber der Puls geht unter Umständen zu lange in Bereiche, wo man auf der Langstrecke definitiv nicht hin will. Kann sein, dass bei der anstehenden Erneuerung der Kurbel vorne ein 34/46 statt 36/46 drauf kommt. Aber zurück zum Thema "Nacht": Batterielichter haben viele Nachteile: Hoher Stromverbrauch wenn die Ausleuchtung der Strasse gut sein soll, der Akku ist oft nicht unterwegs auswechselbar und herstellerspezifisch, Lampen mit den klassischen AA-Zellen gibt es nur noch als Billigprodukt. Klar, man kann sich eine Lupine kaufen. Und zusätzlich noch den grossen Akku für über 250 Franken. Damit kommt man locker durch die Nacht. Aber die zweite Nacht? Und die Kosten? Für das Komplettpaket kann ich mir schon fast ein neues Laufrad mit Nabendynamo inkl Scheinwerfer kaufen.

Aufgrund dieser Überlegung machte ich mich auf die Suche und kam schon recht schnell zur Erkenntnis, dass ein SON Delux Nabendynamo in Kombination mit dem SON Edelux II Scheinwerfer meine Lichtsorgen ein für allemal erledigen würden. Der SON Delux ist optimiert für Rennvelos und läuft erstaunlich widerstandsarm. Wenn er ausgeschaltet ist sowieso, und wenn er Strom liefert, dann fühlt es sich maximal wie ein winziges Gegenwindchen an. 3-4 Watt vielleicht. Man spürt den Widerstand, aber er stört nicht. Dazu der Edelux II Scheinwerfer. Es hat schon seinen Grund, wieso er bei Langstreckenfahrten wie PBP, LEL oder dem TCR so beliebt ist. Der Lichtkegel ist breit und ziemlich gleichmässig und bei entsprechender Ausrichtung "nach oben" enorm weit. Mit 30km/h nachts über einen schlaglöcherigen Feldweg brettern? Check!
SON Edelux II
SON Delux Nabendynamo

David vom Gellert Veloteam war mir beim Aufbau des neuen Laufrads behilflich. An dieser Stelle möchte ich seine Flexibilität und Kompetenz loben! Das Rad auf Basis DT Swiss RR481 mit 32 Speichen läuft absolut top, obwohl zwischen der Erstmontage und dem ersten ernsthaften Einsatz genau 5km Einfahrdistanz liegen... Die gleiche Felge wurde früher CR1600 genannt und von Canyon bei meinem Inflite verbaut. 22mm Innenweite passt perfekt zu 32mm Reifen. Gerne hätte ich wieder den GravelKing SK von Panaracer genommen, aber der ist als Brownwall in 32mm nicht (mehr?) erhältlich. Darum habe ich vorne wie hinten (der war eh abgefahren) den GravelKing SK Plus montiert. Ich bin nicht so der Materialfetischist, daher kann ich auch nicht sagen, ob die verstärkte Seitenwand einen negativen Einfluss auf den Fahrwiderstand hat. Vom Gefühl her läuft der Reifen "smooth" und bis dato pannenfrei trotz Schlauch. Im Gegensatz zum MTB bin ich beim Gravel noch nicht auf Tubeless umgestiegen.

Mein Gepäck verstaute ich wie gehabt in meiner Revelate Designs Satteltasche und der Ortlieb Oberrohr-Tasche. Eigentlich ist das für den Einsatzzweck schon fast zuviel Stauraum. Doch das "Gefingere" in der Satteltasche ist nervig und so bietet sich die Ortlieb für den Zugriff auf schnell benötigte Gegenstände an. Davon abgesehen versuche ich schwere Dinge ins Rahmendreieck zu verstauen um ein Schwingen der Satteltasche im Wiegetritt zu verhindern. Generell musste ich aber als Erkenntnis aus dieser Tour mitnehmen, dass ich zuviel Lebensmittelvorräte mitgenommen habe, welche dann unverspiesen zuhause wieder ausgepackt wurden. Während Wasser an heissen Tagen schnell zum Problem werden kann, ist die Versorgung mit Nahrung vergleichsweise einfach zu lösen.

Die Navigation erledige ich mit Locus Map auf dem Natel, welches in einer Universaltasche von Topeak auf dem Lenker montiert ist. Speziell für diese Fahrt habe ich mir eine 20000er Powerbank von Anker beschafft. Ich bin mit permanent aktivierter Aufzeichnung per GPS und ca 40% der Zeit eingeschaltetem Display unterwegs gewesen und habe deutlich weniger als die Hälfte der Kapazität der Powerbank benötigt.

Mein Gepäck
Fahrbereit

Die Fahrt
Um die Strategie und mein Verhalten unterwegs einordnen zu können muss schon an dieser Stelle gesagt sein, dass die Gesamtdistanz der Tour wesentlich länger geplant war als ich sie schlussendlich umsetzen konnte. Wer will, der kann ja raten was ich ursprünglich vorhatte :-) So, aber jetzt wollen wir endlich losfahren!

Am Samstag 18. Juli gegen 13:00 rollte ich gemütlich von meinem Zuhause in Muttenz los. Ich war gespannt auf die Erlebnisse und Erfahrungen "on the road". Die erste Erfahrung kam auch prompt: Entgegen meiner Planung drehte der Wind nicht wie üblich am Nachmittag auf West, sondern eine frische Brise aus Nord-Ost wehte mir entgegen. Also genau aus der Richtung, in welche ich die nächsten knapp 200km zu fahren gedachte. Ich folgte dem Rhein auf altbekannten Strassen bis in die Gegend von Eglisau und drehte dann nach Frauenfeld - Kreuzlingen ab. Ich bin in der Vergangenheit in die gleiche Richtung auch schon über Weinfelden und Amriswil gefahren und das ist definitiv die flachere Variante. Dafür hat man über Kreuzlingen mehr vom Bodensee.
Ereignisarm durch den Kanton Thurgau
Zwischenverpflegung
Der Bodensee zeigt sich
Ein schöner Sonnenuntergang

Der Verkehr hielt sich glücklicherweise einigermassen in Grenzen und bei Arbon durfte ich zum ersten Mal die Vorzüge meiner neuen Beleuchtung auskosten. In die Nacht hinein rollte ich über St. Margrethen ins Rheintal. Hier hatte ich mir freundlichen Rückenwind aus Norden erhofft, doch der fiel in der Nacht zusammen. Anfänglich noch auf der Hauptstrasse fahrend, lotste mich mein Track zunehmend koupiert durch die Ortschaften auf der Westseite des Tals. Das wurde mir zu blöde und ich entschloss mich, zum Rheindamm abzufahren. Dieser berühmt-berüchtigte Rheindamm ist zumeist geteert und bei Tag meiner Meinung nach todlangweilig zu fahren. In der Nacht hingegen sieht man sowieso nichts und da ist er perfekt um Strecke zu machen. Hinter Landquart hört der Rheindamm auf und ich fuhr auf Nebenstrassen und Feldwegen (offizieller Veloweg) in Richtung Chur. Hier machte sich gegen 2 Uhr Nachts die Ermüdung bemerkbar und in Anbetracht der geplanten Gesamtdistanz hielt ich es für eine gute Idee, eine kurze Schlafpause einzulegen. Eine Sitzbank an einer Bushaltestelle war schnell gefunden und ich schlief/döste für ungefähr zwei Stunden. Kurzfristig unterbrochen durch die Polizei, welche den Grund meines Aufenthalts zu wissen wünschte. Sie haben sich halt einfach Sorgen gemacht, wieso da jemand liegt. Kommt vermutlich nicht so oft vor, dass jemand im Schlafsack eingemümmelt in einer Bushaltestelle neben seinem Velo schläft.
Schlafgelegenheit
Morgendämmerung

Etwas frierend aber motiviert fuhr ich an fröhlich gröhlenden Nachtschwärmern vorbei durch Chur und richtete meinen Fokus auf den ersten Aufstieg des Tages. Durch die Rheinschlucht führt leider keine Strasse, daher muss man entweder auf der Hauptstrasse über Flims oder auf Nebenstrassen über Versam fahren. In beiden Fällen bedeutet das gute 500 Höhenmeter an Aufstieg. Ich hatte mich für die Variante über Flims entschieden, doch vermutlich wäre die Alternative über Versam schöner gewesen. Der Aufstieg auf der breiten Hauptstrasse ist ziemlich steil und langweilig. Irgendwann war ich oben in Flims, doch meine Hoffnung auf ein Käffeli und Gipfeli erfüllte sich so früh morgens leider nicht. Also runter nach Ilanz, wo ich an einer Tankstelle am Ortsausgang endlich meine Gelüste befriedigen und meinen fröstelnden Körper aufwärmen konnte.
Aufstieg nach Flims
Erste Sonnenstrahlen beleuchten die Gipfel
Gut für Leib und Seele!
Das Vorderrhein-Tal

Ab Ilanz beginnt der Aufstieg zum Oberalp-Pass, schön markiert mit weissen Steinen am Streckenrand alle 500 Meter. Leider - oder zum Glück - für die Motivation fängt es bei "1" an. In konstanter, leichter Steigung folgt die Strasse dem Talverlauf. Als Kinder spielten wir früher "Schweizer Reise" und Disentis war einer der total ablegenen Orte. In der Realität des Heute muss ich sagen, dass mein Eindruck beim Spielen viele Jahrezehnte zuvor richtig war. Wirklich ernsthaft wird der Anstieg zum Oberalp-Pass allerdings erst ab Tschamut. In schönen Kehren windet sich die Strasse am Talende in Fahrtrichtung rechts den Hang hoch. Eigentlich ein Genuss, wenn man ihn nicht mit so vielen motorisierten Zeitgenossen teilen müsste. Ich will nicht einmal sagen, dass mich der Verkehr an sich ernsthaft stören würde. Aber müssen denn die knallenden und furzenden Auspüffe an den Töffs wirklich sein? Die linke Hand bewegt sich instinktiv in Richtung Ohr, wenn von hinten wieder einer angebraust kommt. Und Anwohner im Tal möchte ich sowieso nicht sein! Auf der Passhöhe angelangt wurde es Zeit für eine Beurteilung der Reisestrategie. Ich war entgegen meiner Planung gute 4 Stunden im Verzug (ja, auch der Anstieg zum Pass war eigentlich zu verkehrsarmer und kühler Stunde geplant!) und wegen des Gegenwinds erschöpfter als gewünscht. Ich beschloss, nach Andermatt abzufahren und erst einmal ordentlich z'Mittag zu essen.
Kurz vor Sumvitg
Hinter Sedrun fängt die Pass-Strasse an
Der Schlusshang des Oberalp-Passes kommt näher
Auf dem Oberalp-Pass

Bei Pouletgeschnetzeltem mit Reis und einem grossen Panaché ging ich die Optionen durch. Einerseits Weiterfahrt über den Furkapass, das Obergoms runter und in Visp unplanmässig aufhören, andererseits den Exit und runter an den Vierwaldstättersee. Dort würde wegen der Axenstrasse in Richtung Brunnen (Auf meiner Fernfahrt Chiasso - Basel das ein- und das letzte Mal im Leben erlebter Horror!) die Reise ihr zwingendes Ende finden. Ich bin ein Verfechter des EFI-Prinzips und ein Abkürzen per Zug oder Schiff passt mir nicht ins Konzept. Ich konsultierte den Wetterbericht und jener zeigte starken Gegenwind auf beiden Strecken. Die Aussicht auf die zermürbend lange und anstrengende Furka garniert mit dem hohen Verkehrsaufkommen war nicht motivierend. Der Gegenwind im Obergoms erst recht nicht. Auf der SBB App sah ich, dass um 13:30 in Flüelen am See-Ende der direkte Schnellzug nach Basel halten würde. Ich hatte noch knapp zwei Stunden Zeit für die 40km, das ist zu schaffen! Die Schöllenen runter musste ich die Strasse mit dem dichten Verkehr teilen, ab Göschenen nahm der Verkehr deutlich ab und in Amsteg zweigt der Veloweg auf einen schönen Feldweg und später Strasse entlang der Reuss ab.
Gravel bei Amsteg
Rückblick ins Reuss-Tal
Am Vierwaldstätter-See
Endstation Flüelen Bahnhof

So rollte ich motiviert dem Gegenwind trotzend weiter. In Seedorf verliess ich den direkten Weg zum Bahnhof um in einer am Sonntag geöffneten Bäckerei, welche ich von vergangenen Touren her kannte, ein paar Fläschli Cola zu erwerben. Zufälligerweise füllte dieser Umweg auch die Lücke zu den 400km Gesamtdistanz. In Flüelen hatte ich noch ein paar Minuten Zeit bis zum Eintreffen des Zugs und richtete meinen verschwitzten Buff als adäquaten Ersatz für den Mundschutz um der Maskenpflicht im ÖV gerecht zu werden. Im Zug wollte trotzdem niemand neben mir sitzen...
No Comment

Fazit
Jede Reise bereichert einen um neue Erfahrungen und Erkenntnisse. Sei es positiv oder negativ. Was ist überhaupt positiv und negativ? Es IST! Ich bin froh, mich der Herausforderung gestellt zu haben und leise traurig, weil ich mein ursprüngliches Ziel nicht erreichen konnte. Das Erlebnis, mitten in der Nacht an einer Hauptstrasse auf einer Haltestellenbank schlafend von der Polizei geweckt zu werden, will ich aber nicht missen. Die Energie, welche eine Tasse Cappuchino morgens um halb sechs neu in einem weckt. Die Erkenntnis, dass Grenzen zwar im Kopf liegen, doch die Vernunft einen ab und zu davon abhält, sie wirklich ausloten zu wollen. Schlangenlinien fahrend sonntagnachmittags am Furka anyone? Und zu guter Letzt und am wichtigsten: Die ungebrochene Vorfreude auf weitere lange Ausfahrten.

Trackbacks

No Trackbacks

Comments

Display comments as Linear | Threaded

No comments

The author does not allow comments to this entry

Add Comment

Enclosing asterisks marks text as bold (*word*), underscore are made via _word_.
Standard emoticons like :-) and ;-) are converted to images.
E-Mail addresses will not be displayed and will only be used for E-Mail notifications.

To prevent automated Bots from commentspamming, please enter the string you see in the image below in the appropriate input box. Your comment will only be submitted if the strings match. Please ensure that your browser supports and accepts cookies, or your comment cannot be verified correctly.
CAPTCHA

Form options

Submitted comments will be subject to moderation before being displayed.